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Leseprobe Anderer Welten Kind

Die Geschichte ging so:
„Sein Vater hatte bei einem Angriff der Russen in Charkow sein Bein verloren, als er in einen Bombentrichter sprang, um einen dort liegenden Kameraden zu retten. Sein Unglück war, dass eine zweite Granate, von einem russischen Panzerabgeschossen, der sich auf den Trichter zubewegte, neben ihm explodierte und ihn so schwer verletzte, dass das rechte Beinamputiert werden musste.“Ob es sich so abgespielt hatte, war nie herauszubekommen, denn der Vater von Stefan ließ die Geschichte vage und uneindeutig, als wollte er nichts mit ihr zu tun haben, wies ein Freund Stefan immer wiederholte, wenn Christian mehr darüber wissen wollte. So war sie also ausschließlich ihrerFantasie preisgegeben, was ja auch den Vorteil hatte, sich die kühnsten und unwahrscheinlichsten Abenteuer auszumalen, die der Vater im Kampf gegen die Russen durchfochten hatte.Wie er zum Beispiel aus dem Kessel von Charkow entkommen war, millimeterscharf an russischen Panzern vorbei gekrochen, das zerfetzte Bein mit sich schleppend, oder wie er einmal eine kleine Gruppe russischer Soldaten in Schach gehalten hatte, die sich, als er ein Bauernhaus durchsuchte, in einemKellergewölbe versteckt hielt, in dem es nach Kot und Urin
stank. Dabei malten die beiden Jungen sich aus, dass einer der Russen ein weggeschossenes Kinn hatte, einen blutigenSchlund, aus dem Luft- und Speiseröhre hingen, und der Vater nach kurzem Zögern die Tür mit dem Stiefel zutrat, weil er wusste, dass dem nicht mehr zu helfen war. Der Projektion des Vaters zum Helden waren keine Grenzen gesetzt. Es gab jedenfalls keine Geschichte oder Andeutung, die der Vater darüber verlor, die das Bild von ihm hätte relativieren können. Es gab keinen authentischen Hinweis, keine Bemerkung, keine Gesten, nichts. Es gab nur das abbeBein, die Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit derAngehörigen der ehemaligen Waffen-SS, kurz HIAG, und dieTreffen der alten Waffen-SS-Kameraden, an denen Stefans Vater teilnahm, wie übrigens Christians Vater auch, die dieGeschichte doch sehr in die Nähe einer ernstzunehmendenMöglichkeit rückte. Trotzdem fiel die Projektion insofern dennoch schwer, als der Vater ein kleiner, dicklicher Mann war, sehr unbeweglich und meistens schlecht gelaunt, der noch zudem stark schwitzte und schnaufte, wenn er das Holzbein, einen rechten Beinersatz, mit Schwung nach vorne warf und sich gleichzeitig hart gegen einen Stock mit Gummifuß abstützte, den schweren Körper gefährlich nach links geneigt. Einmal hatte Christian den Vater von Stefan vom Wohnzimmeraus schräg über den Flur im Schlafzimmer beobachtet, wie er,in Unterhemd und Unterhose, auf einem Bein balancierend, denStumpf auf das Handstück einer Krücke abgelegt, sich eine Artweißen Strumpf über den rosigen, am Ende wulstig vernarbtenStumpf zog, einem seltsamen, wurstförmig geformtem Oberschenkel, dann in die Prothese schlüpfte, deren oberesTeilstück das hölzerne Pendant zu seinem Stumpf bildete, und mit zwei Fingern der rechten Hand in eine Ventilöffnung griff, die im unteren Teil der Prothese einen kleinen kreisförmigen, gummierten Ausgang bildete. Als er den Zipfel des Strumpfes zu fassen bekam, zog er ihn kraftvoll durch dasLoch, was ein saugendes Geräusch erzeugte, ein Vakuum, das den Stumpf in sein Gehäuse zog. Dann schraubte er das Ventil in die Öffnung, aus der er die sich im Laufe des Tagesansammelnde Luft aus dem Prothesenkörper entweichen lassen

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