Montag, 19. April 1943
Robert streckte weit den rechten Arm aus, der die rote Sturmlaterne hielt, und begann sie langsam in großen Bewegungen zu schwenken. Er stand mitten auf den Gleisen, die sich vor ihm in der Dunkelheit verloren. Tiefe Wolken an dem verhangenen Nachthimmel dämpften jedes Licht. Weit hinten, schon bevor er das stoßweise Fauchen der Lokomotive und das Klopfen und Schlagen der Räder erahnte, wenn die Waggons über die Schwellen fuhren, sah er die drei Lichtkegel der Scheinwerfer der Lokomotive, wie sie den Horizont erhellten. Die Tupfer der Signale leuchteten wie kleine aufgereihte Sterne am Schienenrand. Sie hatten diese Stelle ausgewählt, weil die Züge hier eine langgezogene Kurve fuhren und der Lokführer die Warnlampe schon von weitem sehen musste. Wenige Kilometer hinter ihnen befand sich die kleine Stadt Wespelaer und der Zug drosselte hier die
Geschwindigkeit. Ein Warnzeichen an einem unbewachten Bahnübergang hundert Meter hinter ihnen erforderte die ganze Aufmerksamkeit des Lokführers. Robert war zwischen den Schienen gut sichtbar für jemanden, der sich auf dem Weg
befinden mochte, der parallel zur Strecke verlief. Aber wer sollte sich in dieser kalten Aprilnacht hierher verirren? Um dieseZeit? Die kleine Böschung, die auf den Bahndamm führte, bot mit ihrem Gestrüpp und Unterholz zusätzlichen Schutz.Roberts Hand zitterte und er musste einige Male tief durchatmen, um sein rasendes Herz zu beruhigen. „Ich habe Angst“, dachte er, „hoffentlich stehe ich das durch.“
Aber er wusste auch, dass die Angst, die ihn gepackt hatte, nicht Oberhand gewinnen durfte, sie würde ihn dann lähmen. „Du musst lernen, dass du die Angst beherrschst, und nicht sie dich.“ Wie oft hat er sich das schon vorgebetet und doch war esein Kraftakt, sie nicht hochkommen zu lassen und nicht von ihr
fortgesogen zu werden. Der Zug donnerte heran und jetzt rissen die drei Lampen der Lokomotive schon helle Streifen in die Dunkelheit. Plötzlich durchschnitt ein Pfeifen die Nacht und Robert begann vorAufregung zu hüpfen und er musste sich zusammenreißen, um die Lampe nicht immer schneller zu schwenken. Kreischend griffen die Bremsen und widersetzen sich dem ungeheuren Vorwärtsdrang dieses rollenden, tonnenschweren Geräts. Der Zug schien kaum an Geschwindigkeit zu verlieren, aber Robert war sich jetzt gewiss, dass das Pfeifen und Kreischen die Kühnheit ihres Planes bestätigte und das Unmögliche funktionieren würde. In seine Angst mischte sich erste Freude.
Ruckartig kam der Zug zum Stehen. Robert stellte die Lampe zwischen die Gleise und sprang die Böschung hinunter, um seinen beiden Freunden, Georges. und Jean, zu helfen, die ihre Posten eingenommen hatten. Die Lokomotive stand in ihrem eigenen Dampf, der zischend entwich und die Umgebung in mäandernde Schwaden tauchte. Die Scheinwerfer durchstießen den Dunst und weißten die Eisenbahntrasse mit einem kalten Licht. Hinter der Lokomotive und dem Tender waren die Viehwaggons in tiefes Dunkel gehüllt. Die beiden Freunde kauerten, während Robert den Zug zum Halten brachte, in dem Maulbeerbaumgebüsch, das den Weg neben den Schienen von den Feldern abgrenzte. Sie schwiegen
die ganze Zeit über, nicht weil sie nicht viel lieber miteinander geflüstert und den ganzen Plan noch einmal gewendet hätten, sondern weil sie voneinander wussten, dass sie jetzt mit sich insReine kommen mussten. Sie waren von diesem Augenblick an auf sich allein gestellt. Als sie sahen, dass der Zug die Fahrt verlangsamte, sprang Georges zuerst auf, wie sie es Dutzende Male durchgesprochen hatten. Er entfernte sich dreißig Meter von den Gleisen und hielt seine Pistole in Anschlag, um seine Freunde abzusichern. Jean blieb noch im Gebüsch hocken, während Robert geduckt auf den dritten oder vierten Viehwaggon zulief, aus dem die Rufe „Hierher, hierher“ drangen. Nachdem er die Böschung hochgestolpert war, kaum Halt auf dem rutschenden Schotter gefunden hatte, klaubte er die Zange aus der Umhängetasche und konzentrierte sich darauf, sie nicht fallen zu lassen. Er musste sich strecken, als der den Waggon erreichte, um den Haltegriff fassen zu können, mit dem die Schiebetür geöffnet wurde. Dann zog er sich auf den Tritt und begann den Bolzenverschluss zu bearbeiten. Mit der rechten Hand fingerte er fieberhaft an dem Schloss der Waggontür herum, während er mit der linken leuchtete. Dabei presste er sich mit dem Oberkörper ganz eng an die Holzwand und hielt so mühsam sein Gleichgewicht. Es war viel schwieriger, als er gedacht hatte, denn der Bolzen, der die Tür verschloss, war besonders gesichert und er hatte keinen Hebel, außer den Zangengriffen, zur Verfügung. Warum haben wir das nicht geübt, warf er sich vor, was ist, wenn ich das verdammte Ding nicht aufkriege? Aus diesem Waggon drang kein Geräusch, aber er spürte auf der anderen Seite, wie die Atem stockten. Endlich hatte er es geschafft, der Bolzen flog aus der Halterung und Robert riss die Schiebetür zur Seite und rief gleichzeitig: „Springt, springt, rettet Euch, ihr seid frei!“ Das schrie er auf Französisch und Deutsch, in der Hoffnung, die Menschen in dem Zug würden ihn verstehen. Dass sein Französisch gefärbtes Deutsch von den meisten Gefangenen erkannt und nicht für die Sprache ihrer Henker gehalten würde, davon ging er aus.
Dann wurde geschossen.