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Leseprobe Wullenwever

1952

Nun also Lübeck. Mit Hamburg war er durch. Mit den Strichern ebenso. Er wollte seine Ruhe, nichts als seine Ruhe. Und nie wieder einen Knast von innen sehen. Das Erbe war der Glücksfall. Den verstorbenen Onkel kannte er kaum. Aber das Geld reichte, einen kleinen Antiquitätenladen in der Fischergrube in Lübeck zu betreiben. Alltagsramsch, Nippes, Gebrauchtgegenstände, Möbel. Alles was der Krieg übrig gelassen hatte, was aus Schutt und ausgebombten Häusern den Weg in seinen Laden fand. Manches wurde ihm angeboten, das meiste erwarb er bei Entrümpelungen und bei Versteigerungen. Seine Kunden waren Nachbarn. Bald auch Menschen aus anderen Stadtteilen, Ausgebombte oder die es bei der Flucht nach Lübeck verschlagen hatte, auf der Suche, ihre Barackenzimmer oder zugewiesene Wohnungen zu bestücken. Er hatte Glück gehabt, wenigstens einmal in den letzten Jahren: Eines von den verschonten Häusern, die die Bombenangriffe einigermaßen unbeschadet überlebt hatten und die nun als seltsame Überbleibsel aus dem Schutt und den Mauerrelikten ihrer Nachbarn herausragten wie falsche Botschafter aus einer heilen Zeit, hatte noch einen intakten Hinterhof und ein Waschaus mit einer kleinen Wohnung gegenüber stand zur Vermietung frei. Da er in der Lage war, eine Jahresmiete im voraus zu zahlen, erhielt er den Zuschlag. Wohl aber auch, weil das Waschaus leer stand, von den übrig gebliebenen Mietern nicht mehr genutzt wurde und schon in Vorkriegszeiten als Abstellraum diente. Waschzuber und Waschbretter waren längst ausgeräumt, nur ein alter Handpaddel zum Umrühren der Wäsche lag noch in einer Ecke. Diese erste antiquarische Erwerbung nahm er als gutes Zeichen. Sie diente ihm als vielversprechendes Omen und Dekoration an einer der geweißten Wände. Wullenvewer widerstand jedem begehrlichen, auf das Objekt gerichteten Blick seiner Kundschaft.
Besonders angetan war er von dem gemauerten Waschkessel- Ofen. Er konnte mit Holz oder Kohle befeuert werden und heizte den Raum tüchtig ein. Zwei Fenster zum Hof reichten aus, die vierzig Quadratmeter mit Tageslicht zu füllen. Eine besondere Ironie des Schicksals muss ihn hierher geführt haben. Ausgerechnet ein Waschhaus, das ihm jetzt Heimat werden sollte, ein Waschhaus, das er im Gefängnis verflucht und gehasst hatte.

1954

Jetzt, zwei Jahre später, im Sommer 1954, war sein Antiquariat, eigentlich ein Euphemismus für seinen Gebrauchtwarenladen, dessen er sich gern selbstironisch bediente, gut gefüllt. Er musste nicht mehrt so oft mit seinem Bollerwagen losziehen, um die Versteigerungen abzuklappern oder alte Dachböden auszuräumen.
Er wurde weniger oft gesehen, der kleine gebrechliche alte Mann, den seine Kleidung umschlotterte, wie er mit Trippelschritten gebückt den Bollerwagen mit einem quer über die Schulter gelegten breiten Lederriemen zusätzlich zur Deichsel mit den Handgriffen zog. Bei seinen Gängen erinnerte er sich jedesmal fatal an das Theaterstück von Brecht, in dem die Marketenderin Mutter Courage einen ähnlichen Wagen über die Bühne gezogen hatte. Hätte er jemals gedacht, diese expressionistisch übertrieben ausgeformte Szene selbst einmal in der Wirklichkeit nachzuspielen, mit ihm als Hauptakteur? Sie kannten ihn im Viertel und manchmal, wenn die Last zu schwer war, halfen ihm Kinder schieben. Die ersteigerten größeren Möbelstücke brachte ihm ein Nachbar, der einen Kohlenhandel betrieb.
Dieser August war zum Kotzen. Aus dichten, grau-verhangenen Wolkenbergen regnete es immer wieder. Die Temperaturen erkletterten selten die sechzehn Grad Marke. Wullenwever, der Sonne und Wärme brauchte gegen die innere Kälte, verkroch sich in sein Antiquariat und überlegte, ob er den Ofen anzünden sollte. Er verwarf den Gedanken wieder, zu umständlich, sich im Sommer um Brennmaterial zu kümmern. Stattdessen zog er sich den dicksten Rollkragenpullover über, den er finden konnte, und darüber sein Jackett, groß genug war es ja.
So hockte er auf seinem Stuhl unter dem Fenster, beobachtete den Hof, wenn sich etwas tat, und blätterte in einem Kunstkatalog, den er durch Zufall erst neulich auf einem Dachboden gefunden hatte. Zuerst mochte er gar nicht glauben, was er da in den Händen gehalten hatte. Als sich der Besitzer des Gerümpels näherte, ließ er den Katalog blitzschnell unter seinem Jackett verschwinden. Es war ein Schatz, ein unglaublicher Schatz, und er konnte es kaum erwarten, ihn zu heben. Den Besitzer zu fragen, verbot sich ihm. Entweder würde der leugnen, das Buch zu kennen oder es aber nicht herausrücken wollen aus demselben Grund, den es Wullenwever nicht zögern ließ, es zu stehlen. Er sah förmlich, wie der Besitzer es ihm aus den Händen gerissen hätte. Das konnte er nicht riskieren. So verabschiedete er sich schnell, nachdem er das Geschäft über ein nicht mehr ganz voll- ständiges Porzellan-Kaffeeservice abgeschlossen hatte.
Derart gesättigt voller Vorfreude war er selten bei seiner Ankunft im Antiquariat. Das Kaffee-Service stellte er achtlos auf einem Tisch ab und setzte sich noch in Mantel und Hut auf den Stuhl am Fenster. Der Katalog blieb erst lange auf seinem Schoß liegen. Er beugte sich tief herunter, damit ihm jetzt schon kein Detail entgehen durfte. Auf dem Umschlag prangte die Skulptur eines Kopfes, den der Maler und Bildhauer Otto Freundlich er- schaffen hatte. Sie wurde im Katalog mit Der neue Mensch betitelt. Ein von schräg unten fotografierter wuchtiger Kopf, mit wulstiger Stirn und Brauen, einer breiten gekrümmten Nase und einem über das gesamte Gesicht gezogenen Mund. Ihm kamen die Köpfe von den Osterinseln in den Sinn. Diese Foto-Perspektive sollte wohl für den Titel des Katalogs: Entartete Kunst, Ausstellungsführer, passend gemacht werden, dachte Wullenwever.

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