Zum Inhalt springen

Leseprobe Blinde Flecken

PROLOG
Anna Schäfer schleppt sich ins Café. Todmüde ist sie, zerschlagen, keines vernünftigen Gedankens fähig. Leer. Pffffttt. Als wenn ihr der Stöpsel herausgezogen worden wäre. Dieser verdammte Richter. Und erst recht dieser Garsting. Kindeswohl, pah, dass ich nicht lache. Wie der das Woohl in die Länge gezogen hat, Kindeswoohl, ich hätte ihm dieses Woohl aus seinem verdammten Maul herausreißen sollen, ein für allemal. Mit einer Geste, als verscheuche sie diesen Gedanken, atmet sie tief durch, strafft sich und öffnet die Tür. Sofort schlägt ihr der Kaffeegeruch entgegen. Ihr Kaffeegeruch, der sich mit den warmen Croissants auf der Theke und den Baguetten in dem Korb mischt, die jeden Morgenfrisch aus der Bäckerei zwei Häuser weiter geliefert und im Café zu Sandwichs verarbeitet werden. Ihre beiden Angestellten, Josefine und Thea, sind schon dabei, den Tag vorzubereiten. Josefine wird gleich, wenn sie mit der Kaffeemaschine fertig ist, die Kuchen und Torten in das gläserne Kühlregal neben der Theke stellen; Thea hat bereitsdie ersten Sandwichs mit Gruyère und italienischer Salami belegt und, auf einem Tablett zwischen Salatblättern und Radieschen hübsch dekoriert, ebenfalls ins unterste Fach desKühlregals geschoben. Dieses erste Tablett ist den Stammkunden vorbehalten, die in wenigen Minuten auf ihrem Weg zur Arbeit ihren Kaffee to Go und ihr Sandwich abholen werden. Später wird sie dann in der Küche die Speisen auf Bestellung anrichten. „Guten Morgen. Alles bereit?“ Anna Schäfer muss sich anstrengen, ihre Stimme mit dem gewohnten festen, optimistischen Klang einzufärben, der ihr normalerweise gelingt. Denn wie es in ihrem Inneren aussieht, geht niemanden etwas an. Das hat sie schon immer so gehalten. Auch damals schon vor fünf Jahren, als die beiden Polizisten so unvermittelt vor ihrer Haustür gestanden und nach dem Betreten der Wohnung sie gebeten hatten, sich erst einmal zusetzen. Nach einer von ihr unendlich lange empfundenen Zeit hatten sie ihr so schonend, wie es ihnen möglich war, trotzdem in dürren, schon nach einmaliger Wiederholung verbrauchten Worten, beigebracht, dass in das Auto ihres Mannes auf der Autobahn an einem Stauende ein LKW ungebremstgefahren und er zu Tode gekommen sei. Auch damals hatte sie ihre Trauer nicht vor sich hertragen können und fast unwirsch und ablehnend auf die Kondolenz reagiert. Sie trauerte verschlossen und in sich vergraben, privat, allein in ihrer Wohnung. Ihrer äußeren, öffentlichen Haltung konnteniemand ihre innere Wüste ansehen. Josefine, die ihre Tätigkeit kaum unterbricht, antwortet:„Guten Morgen, Chefin. Alles o.k. Die Bestellungen sind raus.“ Thea, auf dem Weg in die Küche, winkt ein freundliches Hallo in ihre Richtung. Anna Schäfer bemerkt, dass sie auch heute ein T-Shirt mit einem abgeschnittenen Ärmel trägt, das ihre den Oberarm bedeckende Tätowierung einer großen roten Rose, umrankt von grünen Blättern, zur Geltung bringt. Sie schaut sich in dem Café um, geht zu den Tischen, auf denen schon die kleinen Vasen mit den leuchtendbunten Chrysanthemen stehen, ordnet hier eine Speise- und Getränkekarte, nimmt dort einen halb vollen Zuckerstreuer, um ihn an der Theke aufzufüllen. Die Einrichtung entspricht dem neuen Retro-Stil: abgebeizte, mit Farbresten versehene alte Tische und Gestühl, die Wände grob verputzt ohne Anstrich, keine Bilder außer zwei große Reval Zigarettenreklamen aus den sechziger Jahren. Eine Tafel mitwechselnden Tagesangeboten. Minimalistisch, funktional, gemütlich. Zugeschnitten auf die Kundschaft des gentrifizierten Viertels, ein bisschen Bohème, ein bisschen Start-Up, Mittelklasse. Die nahe Universität spült die Studenten hinein. In Momenten, in denen sie sich unbeobachtet fühlt, erschlafft Anna Schäfers Gesicht und die beiden Furchen, dievom Nasenrücken am Mund vorbei das Kinn einrahmen, scheinen noch konturierter. Dann sieht sich zuhause im Flur mit dem Brief in der Hand, sieht sich ins Büro von Garsting stürmen,außer sich vor Zorn und Enttäuschung. Wie können Sie mir dasantun, sehen Sie denn nicht, was Sie damit anrichten? Sie wissen doch, wie gut der Junge es bei mir hat! Und diese Ohnmacht gegenüber dieser aalglatten Fresse und diesen beschwichtigenden Gesten! „Nun beruhigen Sie sich mal, das kann man doch alles bereden. Machen Sie es doch sich und demJungen nicht so schwer. Die Gesetzeslage zum Kindeswoohl…“ Da ist es schon wieder, dieses Woohl, wie ich das hasse! … „… schreibt nun mal vor, dass die leibliche Mutter…“ Ach hören Sie doch auf, leibliche Mutter. Von wegen Bereden, einen Scheiß kann man. Ausgetrickst habt ihr mich. Sieht sich aus dem Zimmer stürzen, Garsting mitten im Satz stehen lassend. Sie hastet an der besorgt schauenden Josefine vorbei in die Toilette, atmet stoßweise, schöpft sich kaltes Wasser ins Gesicht. Zwingt sich tief einzuatmen. Langsam kommt sie zur Ruhe und mahnt sich. Reiß dich zusammen, dumme Kuh. Contenance. Das Wort hilft. Hat immer geholfen. Sie zieht sich die Lippen blutrot nach und schlägt sich ein paar mal klatschend auf die Wangen, durchwuschelt ihre kurzen, braunen Haare. Prüfend schaut sie in den Spiegel, drückt dasKreuz durch und nimmt wieder ihren Platz hinter der Theke ein. Josefines Blicke ignoriert sie.

WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner