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Leseprobe Guerilla im Kopf


Eine neue, eine alte. Wieder wanderten Toris Augen von einer Frauenstatuette zur anderen. Sie strich mit den Fingern über die Oberflächen, über die glatte der neuen Produktion, glasiert und kühl, über die unebene, graue, Asche farbene Struktur des älteren Modells. Sie spürte Schründe, Reliefs, Falten, Haare, Brüste, Bauch, Schenkel mit der Fingerkuppe nach. Bei der alten war alles dran, nichts angedeutet oder interpretiert, Detail für Detail nachgearbeitet, naturgetreu übertragen.Die neue schien ihr besser zu gefallen. Wieder und wieder tastete sie den kleinen Körper ab, die Schwünge der Linien waren kühner, entschlossener. Die Form schien für sich zu wirken und das Weggelassene hinan in die eigene Imagination zu zwingen. Alexander, der zufällig auf dem Weg vom Schuppen durch das kleine Fenster gespäht hatte, war schon eine ganze Zeit stehen geblieben und beobachtete seine Frau, die ihn nicht zu bemerken schien. Im Halbprofil, die Haare zu einem lockeren Knoten gebunden, mit einem Bleistift fixiert, manchmal war es auch ein Essstäbchen, saß Tori über die Werkbank gebeugt, in höchster Konzentration, die Zunge in ständiger Bewegung die Mundwinkel befeuchtend. Er wusste es, obwohl er das Gesicht wegen einiger Haarsträhnen, die der Knoten nicht erfasst hatte, nur unvollständig sah, so vertraut war sie ihm, wenn sie arbeitete. Sie hielt inne, schien über etwas nachzudenken. Sie starrte auf ihre Hände, so als ob sie etwas in ihnen sah, vielleicht eine neue, noch radikalere Richtung, die ihr einzuschlagen nur gelänge, wenn sie sich auf die Arbeit ihrer Hände verließe, sich ihnen ergäbe, sich ihnen hingäbe. Dieser Gedanke gefiel Alexander, seine hingebungsvolle Frau im kreativen Schöpfungsprozess, alles um sich herum vergessend.Er hatte sie nach dem letzten Besuch in Foix gebeten, die alten Figuren noch einmal zu formen, da sie sich gut verkauften. Jetzt sah er sie die graue Skulptur in ihre Hände nehmen, sie gleichsam wiegend prüfen. Die Nachdenklichkeit, die sich auf ihrem Gesicht auszubreiten schien, nahm er als kontemplatives Innehalten.Sie begann die Tonmischung anzurühren. Spachtel und Messer,
die Wasserschüssel, Schmirgelpapier und die wichtigen Modellierhölzer ordnete sie auf der Arbeitsfläche. Das kleine Feilenbesteck. Er sah sie mit halb ausgestreckter Hand zögern, dann entnahm sie dem Etui eine winzige Rundfeile, drehte sie spielerisch hin und her, prüfte die Reibfläche, schob sie zurück unter das Gummiband. Sie griff zur grauen Figur und stellte sie vor sich auf die Werkbank. Betrachtete sie lange von allen Seiten. Dann nickte sie und legte das Feilenetui zu den anderen Werkzeugen. Sie entschied sich für das Modellierholz. Konzentriert arbeitete sie. Fasziniert konnte er sich nicht sattsehen an ihren routinierten Bewegungen. Bei einer Frauenskulptur wie der grauen, alten, die auf einem quadratischen Block saß, das wusste er, wurden die Bohrungen der Löcher, durch die die beim Brennprozess sich ausdehnendeLuft entwich und somit ein Zerbersten des Tons verhinderte, erleichtert, waren weniger kompliziert, als wenn Tori durch die Füße oder andere, nicht sichtbare Teile einer Figur bohren musste. Die einzelnen Arbeitsschritte schien sie ohne lange Überlegungen durchzuführen, eine automatisierte Prozessabfolge aus Macht der Gewohnheit. Sie rührte den Ton an, fügte einen Schamottanteil von fünfundzwanzig Prozent hinzu, knetete ihn solange, bis er eine geschmeidige, nicht allzu poröse Konsistenz erreichte und begann den Körper zu formen. Sie kam gut voran und schon bald zeichnete sich die Grundform in ihren richtigen Proportionen ab. Die bis dahin neutrale Figur saß, leicht nach hinten gebeugt, sehr aufrecht auf dem Quader; ob es ein Stein oder ein Sitzmöbel werden sollte, würde Tori später entscheiden. Die Figur stützte sich mit den Handballen ab, leicht hinter dem Körper
platziert. Sie wartete, bis sich die Tonlederhaut im Härtungsprozess gebildet hatte, um mit den Feinarbeiten zu beginnen.

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